Die amerikanische Dichterin Emily Dickinson, die am 15. Mai 1886 verstarb, ist eine der rätselhaftesten Autorinnen, die je gelebt haben. Sie lebte völlig zurückgezogen, weltverloren, unbekümmert um Ehre literarischen Ruhm und Unsterblichkeit, auf sich allein gestellt. Ihre Gedichte, erstmals 1890 nach ihrem Tod gedruckt, waren jedoch von Weitsicht geprägt und scheinen stilistisch vielfach ins 20. Jahrhundert vorzugreifen.
Die ersten Gedichte von Emily Dickinson stammen aus dem Jahr 1850. Ab etwa 1858 begann sie diese zu ordnen und zusammenzufassen. Die fruchtbarste Schaffensphase in den Jahren zwischen 1860 und 1870 war bereits von zunehmender Vereinsamung und Krankheit überschattet.
Zu Lebzeiten hat Emily Dickinson nur wenige Gedichte veröffentlicht. Nur sieben ihrer insgesamt 1775 Gedichte wurden zu ihren Lebzeiten veröffentlicht, viele fanden jedoch in Briefen an Freunde und Verwandte den Weg in die Öffentlichkeit. Ihre Briefe zählen zu den Höhepunkten der amerikanischen Literatur.
Obwohl Emily Dickinson fast ihr ganzes Leben in ihrem Haus verbrachte, ist ihr lyrisches Werk von enormer Weite und Erfahrung geprägt. Emily Dickinsons poetische Kraft wurde durch ihre Imagination hervorgerufen. Ihr begrenzter Erfahrungsradius hat ihr Schaffen nicht eingeschränkt, sondern eher gefördert, denn sie war mittels ihrer Vorstellungskraft in der Lage, die kleine und überschaubare Welt, in der sie lebte, in eine große Welt zu verwandeln.
Zeitlebens wohnte sie in ihrem Heimatort Amherst im amerikanischen Bundesstaat Massachusetts. In ihren letzten Lebensjahren trug sie nur noch weiße Kleider. Oder auch Totenhemden, könnte man denken. Sie ging auch nicht mehr aus dem Zimmer, wo sie am 15. Mai 1886 verstarb. Ihre letzten Worte waren: „I must go in, for the fog is rising.“
Als sie starb, war sie 56 Jahre alt und wurde in einem weißen Sarg aus dem Haus getragen. Von Schmetterlingen hingebungsvoll umtanzt, wand sich der Trauerzug durch Blumenwiesen zum Familiengrab der rätselhaften Dichterin.