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Samstag, 19. März 2011

»Shakespeare: Theater des Neides« von René Girard

»Shakespeare: Theater des Neides« von René Girard ist eine epochale Studie über William Shakespeare: Alle menschliche Kultur entwickle sich aus dem Bedürfnis der Nachahmung, besagt René Girards mimetische Theorie.

Der Autor entwickelt eine Sicht auf Shakespeares Werke, in der das Handeln der jeweiligen Akteure aus deren mimetischer Beziehung zueinander gedeutet wird, wie sich die Personen also jeweils ineinander spiegeln, und sich dadurch 'manipulieren' oder abzugrenzen suchen. Girard zeigt dabei ein sehr feines Gespür für die psychologischen Triebfedern im Handeln des Menschen und ihre Entsprechungen in den Figuren Shakespeares.

Philosophie, Literaturwissenschaft und Religionswissenschaft haben die Theorie aufgegriffen, und Girard selbst wendet sie nun auf ein zentrales Werk der Weltliteratur an. Er zeigt, wie Shakespeares Helden dem elementaren Bedürfnis der Nachahmung folgen und damit bis heute faszinieren. Sein Buch beleuchtet daher nicht nur Shakespeare und sein Theater, sondern auch die Literatur und ihre Rolle in unserem Leben.

Für Shakespeare ist die ungebrochene Kontinuität zwischen Einigkeit und Uneinigkeit genauso entscheidend wie für die tragischen Dichter Griechenlands, und auch für ihn war sie eine reiche Quelle poetischer Paradoxe. Diese wichtige Quelle menschlicher Konflikte - die mimetische Rivalität - müssen Dramatiker wie Romanciers entdecken, wenn ihr Werk die Flüchtigkeit des Modischen überdauern soll, und sie müssen sie ganz auf sich gestellt entdecken, ohne die Hilfe von Philosophen, Moraltheoretikern, Historikern oder Psychologen, die sich zu dem Gegenstand beharrlich ausschweigen.

Shakespeare entdeckte diese Wahrheit so früh, daß sich seine erste Annäherung ausgesprochen unreif, ja fast wie eine Karikatur ausnimmt. In seinem noch sehr jugendlichen Gedicht »Die Schändung der Lukretia« beschließt der potentielle Vergewaltiger Tarquinius, eine Frau zu vergewaltigen, der er - anders als sein Vorbild bei dem römischen Historiker Livius - nie wirklich begegnet ist; er fühlt sich allein deswegen zu ihr hingezogen, weil der Ehemann ihre Schönheit über alle Maßen rühmt.

Vermutlich schrieb Shakespeare die Szene, unmittelbar nachdem er das mimetische Begehren entdeckt hatte. Er war so gepackt davon, so begierig, das dadurch konstituierte Paradox herauszustellen, daß er eine zwar nicht völlig unglaubwürdige, aber doch ziemlich beunruhigende Ungeheuerlichkeit schuf, eine völlig "blinde Vergewaltigung", in dem Sinn, wie wir von einer "blinden Verabredung" sprechen.

Moderne Kritiker haben eine heftige Abneigung gegen das Gedicht. Was Shakespeare betrifft, so erkannte er sehr schnell (was ich selbst wohl nie gelernt habe), daß es kein sicherer Weg zum Erfolg ist, wenn man vor der Öffentlichkeit mit der roten Flagge des mimetischen Begehrens winkt. Sehr rasch wurde Shakespeares Umgang mit dem Begehren raffiniert, listig und komplex, doch er blieb konsequent, ja obsessiv mimetisch.
Shakespeare kann im Hinblick auf das mimetische Begehren so explizit sein wie unsereiner und verfügt über ein eigenes, dem unseren hinreichend nah verwandtes Vokabular, so daß man sofort weiß, was gemeint ist. Er spricht von "suggeriertem Begehren", "Suggestion", "eifersüchtigem Begehren", "nacheiferndem Begehren" usw. Aber das wesentliche Wort ist "Neid", für sich genommen oder in Verbindungen wie "neidisches Begehren" oder "neidisches Nacheifern".

Wie das mimetische Begehren ordnet der Neid das begehrte Et was einem Jemand unter, der sich einer privilegierten Beziehung dazu erfreut. Der Neid trachtet nach dem höheren Sein, das weder der Jemand noch das Etwas allein, sondern nur die Verbindung beider zu besitzen scheint.
Unfreiwillig bezeugt der Neid einen Mangel an Sein, der den Neidischen beschämt, besonders seitdem der Stolz in der Renaissance metaphysisch überhöht wurde. Darum ist Neid die schwerste Sünde, zu der man sich bekennen kann.

Rene Girards "Shakespeare: Theater des Neides" erweitert weniger den Interpretationshorizont Shakespearscher Werke, als es viel mehr Girards Mimesis-Theorie erhellt. Girards Mimesis-Sicht stellt durch "mimetisches Begehren" eine Beziehung zwischen Nachahmung und - vollzogener oder unterlassener - Gewalt her. Shakespeares Werke dienen Girard als Vehikel seine Theorie der "Mimetischen Nachahmung" (also eigentlich ein Pleonasmus) in Shakespeares Dramen zu transportieren. Das liest sich als Neuling in Agenda "Girards Mimesis" anfangs sehr interessant. Aber mit der Zeit, nach immer wieder durchgekauten Stücken Shakespeares, die immer wieder auf den gemeinsamen Nenner der Mimesis von Girards Theorie, also eigentlich nicht (!!!) der Mimesis von Shakespeares Werken, reduziert werden, dachte ich mir: "Ja, wiß' ma eh scho'…". Der flotte, mitunter lockere Stil kann eine sich einstellende Langeweile mit fortschreitender Kapitellektüre nicht verhindern.

"Shakespeare-Neugierigen" wird das Buch wenig bringen, "Shakespeare-Kenner" werden kaum davon profitieren. Lesenswert ist das Konvolut unter Umständen wegen der Interpretation anderer literarischer Werke, das Kapitel über Joyces "Ulysses" habe ich durchaus interessant empfunden, was weniger an Girards nicht besonders fesselnder Theorie, als vielmehr an meinen, mich zeitweilig fesselnden, Schwierigkeiten mit "Ulysses" liegt. Mit jeder "Ulysses" betreffenden Krücke humpelt der "Ulysses" lesende Geist ein Stückchen weiter, um dann wieder fassungslos stehenzubleiben, und auf die nächste Krücke zu hoffen… Ebenso gilt: "Joyce-Kennern" wird vermutlich auch hier nur kalter Kaffee gewärmt.

Manchmal kam mir beim Lesen auch in den Sinn, ob Shakespeare, wenn er all das, was heutige Literaturwissenschaftler über seine Stücke wissen, auch gewußt hätte, seine Stücke nicht anders (oder überhaupt) geschrieben hätte: Girard erweckt den Eindruck, Shakespeares Intentionen besser zu kennen, als Shakespeare diese - seine - selbst gekannt hatte. Es fehlte im Grunde nicht viel, und Girard würde vielleicht auch noch Shakespeares Dramen "verbessern", um Shakespeares dramatischen und dramaturgischen Absichten eingehender gerecht zu werden, der Ansatz zu diesem Schritt ist in Girards Analysen jedenfalls vorhanden. Beim Lesen kommt auch in den Sinn, wieweit Shakespeare-Interpretationen nicht eher Shakespeare-Interpreten-Projektionen sind, Shakespeare als Psychoanalytiker, Beichtvater, Obsessionsziel, was auch immer, für Generationen von Werk-Deutern, Dramen-Haruspices, Corpus-Interpreten…

Fragwürdig die Methode das Konstrukt eines Stücks, angeführt zur Erläuterung der Theorie, durch die Konstruktion anderer Stücke desselben Autors zu untermauern, um die Theorie zu belegen. Das Verfahren evoziert den haut goût der "self-fulfilling prophecy". Man kann sich auch denken, daß Shakespeare, als Bühnenprofi, viel zu sehr Pragmatiker war, als daß er seine Stücke analytisch konstruiert hätte, um mit einem Maximum an sprachlichen und dramatischen Wendungen ein Optimum an Bühnen- und Publikumswirksamkeit zu erzeugen. Ich denke eher, daß aus einem Fundus von Handlungs- und Strukturgerüsten, welche tragödienseitig durch Sophokles, Aischylos und Euripides, komödienseitig von Aristophanes und Plautus historisch tradiert und durch die Renaissance- (der) Übersetzungen einerseits, durch den Buchdruck andererseits, den elisabethanischen Lesern aktuell zugänglich waren, diese, manchmal mittels nur minimaler origineller Eingriffe, inspiriert/"abgekupfert" von literarischen Konkurrenten (z. B. die "University Wits"), "aufgepeppt" wurden, um entsprechende Bühnen- und Publikumswirksamkeit zu erreichen. Mit "aufgepeppt" meine ich z.B. Anspielungen auf zeitgenössische politische oder gesellschaftliche Situationen. Die Theorie Girards macht mir Shakespeare zu steril, als ob er (resp. seine fakultativen Co-Autoren, die nicht auszuschließen sind, und die Girard bei "Coriolanus" einräumt) seine Stücke am Reißbrett erdacht hätte.

Da die Überlieferung der Shakespearschen Stücke in erster Linie durch vereinzelt stark differierende Texte in (bad, doubtful, good) Quartos, resp. durch die (vermutlich) zusammengeführten Schauspieler-"Rollen" in den Folios stattgefunden hat, frage ich mich, wo soll da die Rißzeichnung, der Urtext Shakespeares sein, an welchem seine konstruktive Intention, seine eigene dramaturgische Handschrift sozusagen, wirklich erkennbar wäre, welche die Theorie Girards unmittelbar bestätigte? Wie kann eine Texttheorie unmittelbar durch einen nur mittelbar überlieferten Text bestätigt werden? Die Unmittelbarkeit läßt jedoch Girards stark heraushängen, die Zitate erscheinen als in Fels gemeißelt, was bei Übersetzungen kein Wunder darstellt, da meistens eine (einzige) Referenzübersetzung für Belege herangezogen wird, und die liefert natürlich nur einen (einzigen) Text, ohne textkritische Varianten, ab, da eine Übersetzung keine philologische Textkritik ist. Aber auch Originalzitate brächten kaum eine Lösung: Historisch setzte sich im wesentlichen ein kanonisierter Text des Shakespeare-Corpus-Kanons durch, trotz verschiedener Textausgaben unterschiedlicher Textfassungen, - und selbst unterschiedlicher Dramenzusammenstellungen.

Unterm Strich hätte das ganze Werk durchaus als Broschüre seine Information vermitteln können, den beinahe kompletten Shakespeare-Corpus (etwa ein Drittel der Dramen ausführlich, weitere, inklusive der Dichtungen, werden erwähnt) zur Illustration einer einzigen nebbichen Theorie heranzuziehen, betrachte ich als stark übertrieben, an einigen wenigen Shakespeare-Dramen demonstriert, würde der Leser Girards Theorie auch kapiert haben.

Weder die finanzielle, noch die lesezeitliche Investition lohnen den Ertrag für literaturinteressierte Leser, schon gar nicht für "Shakespeare-Interessenten". Eventuell finden lediglich einige theorieinteressierte Leser von René Girard hierin eine willkommene Lektüre.

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